Interview
Interview mit Nina Schläfli, Präsidentin SF MVB, Nationalrätin
Nina Schläfli spricht im Interview über ihren persönlichen Bezug zur Mütter- und Väterberatung und wie sie sich als Nationalrätin in diesen Bereichen einsetzt. Zudem beantwortet sie Fragen zu politischen Perspektiven und wirft einen Blick in die Zukunft.
Persönlicher Einstieg
- Was hat Sie ursprünglich zur Mütter- und Väterberatung geführt – beruflich wie persönlich?
Der erste Besuch der Mütterberatung, wie das früher noch hiess, war mit meinem kleinen Bruder. Damals sassen zahlreiche Mütter mit ihren Babys und Geschwisterkindern im gleichen Raum und haben gewartet, bis sie an der Reihe waren. Es war warm, laut und trubelig. Viele Jahre später war ich dann mit meiner eigenen Tochter wieder da, weil ich das niederschwellige Angebot kennenlernen wollte.
Noch vor meinem Amtsantritt als Nationalrätin fragte mich Flavia Wasserfallen, meine Vorgängerin als Präsidentin des SF MVB, ob ich ihre Nachfolge antreten möchte. Weil wir als nationale Parlamentarier:innen häufig für solche «Jöbli» angefragt werden, habe ich mir selbst Regeln dafür gegeben. Eine davon ist, dass ich vollumfänglich hinter den Anliegen der Organisation stehen können muss – das ist beim SF MVB ohne Zweifel gegeben.
- Wie verbinden Sie Ihre Rolle als Nationalrätin mit dem Engagement im SF MVB – Synergien oder Spannungsfelder?
Als Nationalrätin habe ich Zugang zu Informationen und wichtigen Personen. Weitere Synergien ergeben sich auch aus meinen weiteren beruflichen und politischen Tätigkeiten und bisherigen Erfahrungen, z.B. als Kantonsrätin. Die Bereiche Gesundheit und Bildung, aber auch die Fördermassnahmen im Bereich Frühe Kindheit oder die ganze familienexterne Kinderbetreuung sind zu einem grossen Teil auf kantonaler Ebene angesiedelt.
Inhaltliche Spannungsfelder gibt es eigentlich keine, das liegt sicher daran, dass ich hinter den Forderungen des SF MVB stehen kann, zum Teil aber auch daran, dass ich nicht in den für die Mütter- und Väterberatung potenziell zuständigen Kommissionen sitze. Das hat den Vorteil, dass ich weiterhin unbefangen politisieren kann. Mandate und Ämter von uns Bundesparlamentarier:innen werden zurecht kritisch betrachtet. Organisationen aus dem sozialen Bereich sind im Lobbying eher zurückhaltend, was dazu führt, dass ihre Anliegen weniger wahrgenommen werden. Das ist ein weiterer Grund, warum ich diese Nähe von Politik und Verband richtig und wichtig finde.
Umbruch in der MVB
- Der SF MVB befindet sich in einem bedeutenden Umbruch. Wie erleben Sie diese Phase als Präsidentin?
Spannend und intensiv auf der einen Seite, herausfordernd und verantwortungsvoll auf der anderen. Im Vorstand haben wir derzeit grosse Gestaltungsmöglichkeiten, auf der anderen Seite bereiten uns die schwindenden finanziellen Mittel der öffentlichen Hand Sorgen.
- Welche Veränderungen in Gesellschaft, Familie oder Politik machen eine Neuausrichtung nötig?
Wenn die Gesellschaft diverser wird, werden es auch die Familien. Die meisten Entwicklungen sind nicht neu, etwa die Zunahme von Alleinerziehenden oder Patchwork-Familien. Die nach wie vor zunehmende Mobilität führt dazu, dass Verwandtschaftsstrukturen schwächer werden und externe Beratung und Betreuung einen grösseren Stellenwert einnehmen, dass die Anzahl fremdsprachiger Kinder und Familien weiterhin steigt und leider auch, dass die Anzahl von Familien in vulnerablen Situationen u.a. aus diesen Gründen zunimmt. Das alles hat Konsequenzen für die Mütter- und Väterberatung und somit für den Verband.
In der Politik ist der ganze Bereich «Frühe Kindheit» stärker im Fokus als früher: Diskutiert werden vermehrt z.B. die vorschulische Kinderbetreuung oder geeignete Fördermassnahmen für die Kleinsten, z.B. die Sprachkenntnisse der jeweiligen Landessprache bei Kindergarteneintritt. Leider werden die nötigen finanziellen Mittel für Prävention, Beratung und Förderung in der frühen Kindheit nicht im gleichen Ausmass gesprochen, wie es die gesteigerten Anforderungen erwarten lassen.
Politische Perspektiven & Positionierung
- In Ihrer Rolle als Nationalrätin: Wie setzen Sie sich politisch für die Anliegen von Familien und dem Bereich Frühe Kindheit ein?
Bisher konzentrierten sich meine Aktivitäten eher im Hintergrund, nicht aus Desinteresse oder mangelndem Handlungsbedarf, sondern viel mehr aufgrund der arbeitsteiligen Arbeitsweise im Parlament.
Ich war an etlichen Präsentationen und Lobbyanlässen der Familienorganisationen, habe bei Abstimmungen im Parlament für den Bereich Frühe Kindheit oder im Interesse der Familien abgestimmt, stand im Kontakt mit Kolleg:innen, die sich mit den gleichen oder verwandten Themen beschäftigen, und habe versucht, die Politik grundsätzlich oder andere Akteure für die Anliegen der Mütter- und Väterberatung zu sensibilisieren.
Langfristig schwebt mir ein programmatischer Familienartikel in der Verfassung und eine stärkere Implementierung der Kinderrechtskonvention in den Gesetzen auf allen föderalen Ebenen vor. Dann hätten wir eine bessere Grundlage für eine zeitgemässe Unterstützung von Familien und Kindern in allen Lebenslagen.
- Wie wird die Mütter- und Väterberatung Ihrer Meinung nach auf Bundesebene wahrgenommen – und was müsste sich ändern?
Überhaupt wahrgenommen zu werden. Das wäre schon viel. Aus diversen Gesprächen weiss ich inzwischen, dass die meisten Politikerinnen und auch einige Politiker zwar das Angebot der Mütter- und Väterberatung ungefähr kennen, nicht aber die konkreten Angebote oder schlimmer: Sie denken im entscheidenden Moment nicht an die Mütter- und Väterberatung. Hier gilt es mehr Bewusstsein zu schaffen.
Letztes Jahr wurden wir zum ersten Mal zu einer Anhörung in einer nationalrätlichen Kommission eingeladen. Ein Vorstandsmitglied durfte zur gewaltfreien Erziehung aus Sicht des SF MVB Stellung nehmen. Das Gesetzesprojekt steht inzwischen (hoffentlich!) kurz vor dem erfolgreichen Abschluss. Ich finde es sehr wichtig, dass wir uns an solchen Entscheidungs- und Meinungsbildungsprozessen beteiligen. So schaffen wir mehr Bewusstsein für den SF MVB, unsere Anliegen und vor allem für die Bedürfnisse von Kindern und ihren Erziehungsberechtigten in diesem Land.
Strategie des SF MVB
- Welche strategischen Ziele verfolgt der Verband in den nächsten Jahren?
Verbandsintern möchten wir uns zukunftsgerichtet und nachhaltig aufstellen. Die Finanzen oder die Qualitätssicherung sind dabei zentrale Themen, wir diskutieren aber auch die internen Strukturen sowie ein Rebranding: Aus der Mütter- und Väterberatung soll bald die Beratung Frühe Kindheit werden. Uns ist wichtig, dass unsere Mitglieder durch ihre Mitgliedschaft einen Mehrwert für sich und ihre Tätigkeit spüren.
Nach aussen bedeutet das vor allem, dass wir daran arbeiten müssen, dass unsere Inhalte und Botschaften stärker von Politik, der Fachwelt und der Gesellschaft insgesamt wahrgenommen werden.
Das bedeutet nicht, dass wir alles komplett umstellen werden. Bewährte Formate und Angebote bleiben natürlich bestehen, wie z.B. die jährliche Fachtagung.
- Welchen Stellenwert haben dabei Themen wie Professionalisierung, interdisziplinäre Zusammenarbeit oder Digitalisierung?
Wie in den meisten Vereinen, Verbänden oder Organisationen grundsätzlich, sind das die drei Schlagworte, in denen wichtige Entwicklungen anstehen.
In den letzten Jahren haben wir dank der neuen Ausbildung Berater:in Frühe Kindheit mit eidg. Diplom einen grossen Schritt in Richtung Professionalisierung bereits genommen. Wir prüfen derzeit, ob eine Ausbildung auch in der Romandie lanciert werden kann.
Die Digitalisierung ist natürlich längst eine Tatsache, hier läuft bereits einiges. In den kommenden Jahren möchten wir Qualitäts- und Mindeststandards etablieren, best practise-Beispiele austauschen.
In der neuen Strategie möchten wir vor allem die interdisziplinäre Zusammenarbeit weiter ausbauen. Die konkreten Projekte sind zwar noch nicht spruchreif, uns schwebt eine engere Zusammenarbeit aller Akteure vor, in und nach der Frühen Kindheit.
- Wie gelingt es dem Fachverband, in der föderalen Struktur der Schweiz mit 26 kantonalen Realitäten eine gemeinsame Linie zu finden?
In der Schweiz ist dieser Umstand eine Realität, der wir in allen sozialen oder politischen Bereichen begegnen. Das ist zwar manchmal herausfordernd und erfordert viel Kommunikation, es ist aber auch eine Chance: Für neue Probleme gibt es nicht die eine, von oben verordnete Lösung, sondern unterschiedliche Herangehensweisen. Mit einem vermehrten Austausch und einer stärkeren Vernetzung können wir das sicher noch nutzbarer für alle machen.
Ich empfinde die Sprachgrenzen manchmal fast als die grössere Hürde. Auch hier möchten wir gerne ansetzen und die Kolleg:innen und Organisationen aus der Romandie und dem Tessin besser integrieren.
Fachkräfte und Nachwuchs
- Wie attraktiv ist der Beruf «Berater:in Frühe Kindheit» heute? Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Attraktiv ist der Beruf allemal: Die Tätigkeit ist vielseitig, wichtig und sinnstiftend. Eine gute Beratung kann das Leben von kleinen Kindern und ihren Eltern deutlich prägen, in einigen Fällen vielleicht sogar grundlegend verändern. Ich würde behaupten, dass man als Berater:in Frühe Kindheit am Fundament der Gesellschaft von heute und morgen mitbaut.
Die meisten Berater:innen, die ich bisher kennenlernen durfte, machen ihren Beruf aus Überzeugung, mit Begeisterung und viel Herzblut. Das ist sehr schön, aber umso wichtiger sind gute Arbeitsbedingungen – wie eigentlich fast überall im Sozialbereich. Es braucht faire Entlöhnung, verlässliche Arbeitszeiten, gute Führung, Vermeidung von Stress und Leerläufen, ausserdem ausreichende und nachhaltige Ressourcen zur Ausübung der Beratungstätigkeit.
Familien heute – gesellschaftlicher Wandel
- Welche Themen beschäftigen Familien heute besonders stark, die vor zehn Jahren noch kaum Thema waren?
Da gibt es etliche und wahrscheinlich variieren die Themen je nach befragter Person. Die grösste Veränderung ist die Bedeutung von sozialen Medien oder des Internets allgemein bzw. der Umgang damit. Das gilt für Kinder, aber natürlich auch für Erwachsene. Hier spüre ich in der Politik, aber auch unter Eltern grosse Verunsicherung.
Weiter würde ich sagen, dass die psychische Gesundheit eine grössere Bedeutung bekommen hat. Das liegt leider daran, dass immer mehr Kinder und Jugendliche psychisch krank sind oder eine Diagnose erhalten, aber auch daran, dass die Präventionsarbeit hier stärker ansetzt.
Und dann gibt es natürlich noch ganz viele Herausforderungen, die eine diverse Gesellschaft mit sich bringen kann: Vorher ausgeführt habe ich schon die Frage von Sprache und zunehmender Mobilität, dann gibt es derzeit zahlreiche, sehr unterschiedliche Erziehungsmethoden und Ernährungsmöglichkeiten, Geschlechterrollen oder Geschlechtsidentitäten sind sicherlich auch ein grösseres und konfliktreiches Thema als noch vor zehn Jahren. Immer noch aktuell ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie (und im Idealfall noch ein bisschen Freizeit) sowie der Kostendruck von Familien: Kinderbetreuung, Mieten und Krankenkassen wurden noch einmal spürbar teurer. Aus Umfragen wissen wir, dass das viele Familien enorm belastet.
Abschluss / Blick in die Zukunft
- Wenn Sie einen Wunsch frei hätten für die Weiterentwicklung der Mütter- und Väterberatung – welcher wäre das?
Ich würde mir wünschen, dass die Mütter- und Väterberatung in allen Kantonen und beim Bund als wichtiger Bestandteil der Frühen Kindheit gesetzlich verankert wird und dadurch endlich die Anerkennung und Ausstattung erhält, die ihr gebührt.
- Was möchten Sie jungen Familien mit auf den Weg geben?
Erstens natürlich, die zahlreichen Beratungs- und Unterstützungsangebote wahrzunehmen – am besten schon in guten Zeiten und nicht erst, wenn es einmal nicht so rund läuft. Zweitens: social media ist meistens ein schlechter Ratgeber. Drittens ist eine gute Waschmaschine Gold wert. Darüber hinaus möchte ich gar nicht so viel sagen, denn aus eigener Erfahrung weiss ich, dass man sich als werdende Mutter über Ratschläge von Eltern eher nervt und das Gefühl hat, dass das einem selbst eh nicht betrifft.
- Und zum Schluss: Worauf freuen Sie sich im Verband am meisten in den kommenden Jahren?
Auf die Umsetzung der Strategie und Projekte, die wir gerade im Vorstand entwickeln, auf inhaltlich lehrreiche Jahre und viele interessante Begegnungen mit Berater:innen Frühe Kindheit und Projektpartner:innen.